Der Potentialbegriff gemäß § 137c Abs. 3 SGB V – Bregenhorn-Wendland & Partner (2024)

Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft auf Antrag, in der Regel des SpiBu oder der DKG, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auf Wirtschaftlichkeit und medizinische Erforderlichkeit. Mit Inkrafttreten des GKV-VSGes am 23.07.2015 greift diesbezüglich die gesetzgeberische Klarstellung in § 137c Abs. 3 SGB V, wonach für den Fall, dass der GBA noch nicht über den Antrag entschieden hat, ein solcher noch gar nicht gestellt wurde oder das Bewertungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist, dass die Methoden im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden dürfen, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig sind.

In Heft 6/2018 hatten wir Sie über ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.12.2017 – B 1 KR 17/17 R – informiert, dem ein Behandlungsfall vor Inkrafttreten des GKV-VSG zugrunde lag. Das Bundessozialgericht entschied unter Hinweis auf seine vorausgegangene Rechtsprechung, beispielsweise mit Urteil vom 17.12.2013 – B 1 KR 70/12 –, dass – ohne auf die gesetzgeberische Klarstellung in § 137 Abs. 3 SGB V vertiefend einzugehen – für Behandlungsfälle vor Inkrafttreten des GKV-VSG jedenfalls § 137c SGB V nicht als generelle Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt ausgelegt werden dürfte, sondern eine Prüfung der eingesetzten Methoden auf Eignung, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit im Einzelfall im Sinne eines Verbotsvorbehaltes erfordere.

Wie ist nun der Potentialbegriff, der vor Inkrafttreten des GKV-VSG in § 137c Abs. 1 S. 2 SGB V geregelt war und seit dem 23.07.2015 in § 137c Abs. 3 SGB V geregelt ist, zu verstehen?

Nach der Verfahrensordnung des GBA, der im Auftrag des Gesetzgebers über das Potential einer Methode zu entscheiden hat, ergibt sich die Begriffsbestimmung aus dem zweiten Kapitel in § 14 Abs. 3: „Das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative kann sich nach der Gesetzesbegründung daraus ergeben, dass die Methode aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse mit der Erwartung verbunden ist, dass andere aufwendigere, für die Patientinnen und Patienten invasivere oder bei bestimmten Patientinnen und Patienten nicht erfolgreiche Methoden ersetzt werden können oder die Methode in sonstiger Weise eine effektivere Behandlung ermöglichen kann.“ Die Verfahrensordnung des GBA lehnt sich damit eng an den explizit erklärten gesetzgeberischen Willen an, der in den ausführlichen Gesetzesmaterialien zur gesetzgeberischen Klarstellung in § 137c Abs. 3 SGB V so eindeutig zum Ausdruck kommt, wie man es nur zum Ausdruck bringen kann (vgl. BT-Drs. 18/4095, Seite 121), sodass hier nur folgende zwei Sätze aus den Gesetzesmaterialien wörtlich zitiert sein sollen: „Durch die Ergänzung eines dritten Absatzes in § 137c SGB V wird das in der Krankenhausversorgung geltende Prinzip der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt konkreter im Gesetz geregelt. Die Regelung ist erforderlich, weil die Gesetzesauslegung in der jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung mit dem in § 137c SGB V zum Ausdruck gebrachten Regelungsgehalt in einem Wertungswiderspruch steht ….“

In seinem, den gesetzgeberischen Willen konterkarierenden, mit Urteil vom 19.12.2017 – B 1 KR 17/17 R zum Ausdruck kommenden Verständnis der Vorschrift des § 137c SGB V führt das Bundessozialgericht aus, „eine in Anspruch genommene Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation sei für die rechtsprechende Gewalt nicht verbindlich“. Diese mehr als eigenwillige Ansicht hat das Bundessozialgericht schließlich noch mit Urteil vom 24.04.2018 – B 1 KR 13/16 R – auch für Behandlungsfälle nach Inkrafttreten des GKV-VSG verschlimmbessert, wonach „nach Wortlaut und Regelungssystem auch die Norm des § 137c Abs. 3 SGB V nicht die Qualitätsanforderungen für den Anspruch auf stationäre Versorgung auf Methoden mit dem bloßen Potential einer Behandlungsalternative senke“. „Die Gerichte seien bei dieser klaren Gesetzeslage an einer Rechtsfortbildung contra legem gehindert. Soweit die Gesetzesmaterialien zu einem abweichenden Ergebnis führten, komme dem Gesetzeswortlaut, dem Regelungssystem und dem Regelungsziel der Vorrang zu.“ Welche Bedeutung den seitens des Bundessozialgerichts ignorierten Gesetzesmaterialien und dem vom Bundessozialgericht missachteten gesetzgeberischen Willen zukommt, hat jüngst das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 06.06.2018, 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Aus dem Beschluss sei wie folgt zitiert:

Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. Der Gesetzgeber hat dies seit langem anerkannt und den obersten Gerichtshöfen des Bundes die Aufgabe der Rechtsfortbildung ausdrücklich überantwortet. Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigierend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen. Die richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen. Die Gerichte dürfen sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich bei dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.

Vor diesem Hintergrund wurde diesseitig gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.12.2017 Verfassungsbeschwerde erhoben, die beim Bundesverfassungsgericht unter Az. 1 BvR 562/18 anhängig ist. Aufgrund der eindeutigen Gesetzesmaterialien unterscheidet sich das Verfahren maßgeblich von dem jüngst seitens des Bundesverfassungsgerichts entschiedenen Verfahren zur „sachlich-rechnerischen Richtigkeitsprüfung“, dessen Erfindung durch das Bundessozialgericht das Bundesverfassungsgericht als noch der richterlichen Rechtsfortbildung unterfallend charakterisiert hat. Vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Klarstellung und der eindeutigen Gesetzesmaterialien hat sich jüngst das Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Urteil vom 11.12.2018 – L 11 KR 206/18 – gegen die bundessozialgerichtliche Rechtsprechung gestellt und ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit dem Potential einer Behandlungsalternative einen Mittelweg eingeschlagen habe zwischen Anerkennung und Ablehnung einer Methode nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin, nämlich eine mit niedriger Evidenz belegte Behandlungsalternative. Die Auffassung des BSG, dass die Regelung in § 137c SGB V nur (nicht bloß: auch) Raum für den GBA schaffe, Richtlinien zur Erprobung nach § 137e SGB V zu beschließen, wenn die Überprüfung im Rahmen des § 137c SGB V ergibt, dass der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, wird vom 11. Senat des LSG Baden-Württemberg ausdrücklich nicht geteilt. Die vom 11. Senat des LSG Baden-Württemberg zugelassene Revision hat die Krankenkasse zwischenzeitlich eingelegt. Ob der 1. Senat des BSG damit die eröffnete Chance zur Selbstkorrektur wahrnimmt, bleibt in dem konkreten Fall jedoch unsicher, weil der GBA bereits am 20.12.2018 zum bronchoskopischen Verfahren zur Lungenvolumenreduktion mittels Einlage von Spiralen (Coils) beim schweren Lungenemphysem bei Patienten mit einem pulmonalen Residualvolumen von mindestens 225 % vom Soll den Nutzen und jedenfalls für Patienten mit einem pulmonalen Residualvolumen von weniger als 225 % vom Soll das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative anerkannt hat. Der vom 11. Senat des LSG Baden-Württemberg entschiedene Fall aus dem Kalenderjahr 2013 unterscheidet sich hinsichtlich der Evidenzlage in keinster Weise von dem Fall, den das Bundessozialgericht am 19.12.2007 entschieden hat. Das Bundessozialgericht hat es seinerzeit versäumt, den Fall zur zutreffenden Feststellung der Evidenzlage an den 5. Senat des LSG Baden-Württemberg zurückzuverweisen, der unter Verletzung des mit der Revision gerügten Amtsermittlungsgrundsatzes seine Entscheidung lediglich auf ein fachfremd erstelltes MDK-Gutachten gestützt hatte.

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