Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 18/2021 vom 10.09.2021
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Sachverhalt
Streitig ist die Erstattung der Kosten zweier stationärer Liposuktionen (Fettabsaugungen) i.H.v. rund 9.400 EUR.
Die 1997 geborene Klägerin beantragte 2016 befundgestützt die Versorgung mit zwei stationären Liposuktionen im Bereich der Beine und der Oberarme. Nach Einschaltung des MDK lehnte die beklagte Krankenkasse ab. Während des Widerspruchsverfahrens und der Klage ließ die Klägerin die erste und zweite stationäre Liposuktion durchführen und verlangt nun Erstattung der dafür entstandenen Kosten von 9.384,68 EUR. SG und LSG weisen die Klage unter Bezug auf BSG (BeckRS 2018, 16147) ab. Stationäre Liposuktionen gehörten nicht zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung, u.a., weil sie das nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V geltende Qualitätsgebot nicht erfüllen. Davon entbinde auch nicht § 137c Abs. 3 SGB V. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin.
Entscheidung
Das BSG hebt das Urteil auf und verweist den Rechtsstreit an das LSG zurück. Es möge prüfen, ob die hier in Rede stehenden medizinischen Maßnahmen das „Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative“ i.S.d. § 137c Abs. 1 SGB V bieten.
Zwar handele es sich hier um eine Methode, zu der der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) eine Richtlinie bisher nicht erlassen hat, so dass wegen des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt gem. § 135 SGB V die Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nicht in Betracht käme. Auch sei die Qualität nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen nicht gesichert. Jedoch schränkt § 137c Abs. 3 SGB V diese Maßgaben partiell ein. Die gesetzlichen Regelungen zur Erprobung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden machen deutlich, dass bei der Anwendung solcher Methoden die Teilhabe an medizinischen Innovationen und der Patientenschutz in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden sollen. Dies gebietet es, bei noch nicht existenten Erprobungsrichtlinien den Anspruch auf Potentialleistungen auf die Fälle schwerwiegender Erkrankungen nach Ausschöpfung der Standardtherapien zu beschränken. Die Regelungen nach § 137c Abs. 3 SGB V über Ansprüche auf Leistungen, die das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative haben, eröffnet den Versicherten einen vom allgemeinen Qualitätsgebot abweichenden Anspruch auf Krankenhausbehandlung nach einem abgesenkten Qualitätsgebot, dem Potentialmaßstab. Damit gibt der Senat seine bisherige restriktive Rechtsprechung auf. Aus dem Wortlaut des § 137c Abs. 3 SGB V ergebe sich, dass Krankenhäuser für Versicherte auch Leistungen erbringen können, die nur das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative haben. Dazu verweist der Senat auch auf die Entstehungsgeschichte.
Allerdings ist der Anwendungsbereich von Potentialleistungen zur Gewährleistung eines ausreichenden Patientenschutzes wegen der transitorischen, auf eine abschließende Klärung ausgerichteten Methodenbewertungsverfahrens eng auszulegen. Der Senat verweist dazu auch auf die Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA). Potentialleistungen kommen nur für einen vorübergehenden Zeitraum in Betracht. Sie sind in das System der Qualitätssicherung eingebettet, dass im Regelfall auf eine Entscheidung des GBA über die Wirksamkeit neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ausgerichtet ist. Im Widerstreit zwischen Innovation und Patientenschutz ist bei fehlenden kompensatorischen Sicherungen in Gestalt des GBA-Verfahrens dem Patientenschutz Vorrang einzuräumen. Potentialleistungen dürfen demnach vor Erlass einer Erprobungsrichtlinie nur dann angewendet werden, wenn die Abwägung von Chancen und Risiken zugunsten der Potentialleistung ausfällt. Voraussetzung ist also eine schwerwiegende Erkrankung, für die nach dem jeweiligen Behandlungsziel eine Standardtherapie nicht oder nicht mehr verfügbar ist. Die Potentialleistung muss zudem medizinisch indiziert und notwendig sein, also sich auch am Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V orientieren.
Praxishinweis
1. Seit Jahren wird darüber gestritten, ob Liposuktionen Leistungen der GKV sein können – unabhängig davon, dass diese Methode in vielen Fällen der „letzte Ausweg“ für die Betroffenen ist (vgl. nur LSG Bayern, FD-SozVR 2021, 439027, dazu ausführlich Knispel, JurisPR-SozR 9/2021, Anm. 2).
2. Das LSG muss nun eine Mammutaufgabe lösen: Ohne dass dies sich aus dem Tatbestand explizit ergibt, kann man wohl unterstellen, dass die Klägerin die Behandlungsmethoden, die der medizinische Standard zur Verfügung stellt, ausgeschöpft hat, so dass die Liposuktion hier „erforderlich“ war. Sie wurde wohl auch nach den Regeln der ärztlichen Kunst angewandt, dennoch bestanden jedenfalls damals nicht unerhebliche Risiken. Gerade um diese Risiken Willen hat der Gemeinsame Bundesausschuss mit Beschluss vom 19.09.2019 befristet bis zum 31.12.2024 die Liposuktion bei Lipödem im Stadium III in den Katalog der anerkannten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden aufgenommen. Ob hier ein Lipödem im Stadium III vorlag, ist unklar. Wenn nicht, taucht die Frage auf, ob die vom GBA veranlasste Erprobungsstudie diesen Fall mitumfasst. Rückwirkend konnte die Klägerin nicht in die Erprobungsstudie aufgenommen werden; die Frage ist aber, ob die Existenz einer Erprobungsstudie gleichsam in die Vergangenheit ausstrahlt und zuvor bereits durchgeführten Behandlungen die Eigenschaft als „Potential“ im Sinne des § 137c SGB V attestiert. Hier hebt der Senat hervor, dass ein Anspruch aufgrund des Potentials immer nur für eine befristete Dauer in Betracht kommt. Welche Frist ist hier maßgeblich?
3. Der Senat betont, dass auch Behandlungsmethoden, die das Potential einer erforderlichen Alternative bieten, qualitätsgesichert durchgeführt werden müssen. Wegen der unklaren Risiken bedarf es also einer besonderen Aufklärung – wie verhält es sich aber mit der Evaluation? Sollte hier eine spezielle Dokumentation erforderlich sein, die eine Überprüfung des Behandlungserfolges und eventuell eingetretener Risiken ermöglicht?
4. Das neue Urteil mit seinem Bezug auf das Potential einer Behandlungsalternative könnte auch ausstrahlen auf die Prüfung, wann eine Behandlungsmethode i.S.d. § 2 Abs. 1a SGB V „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung“ auf den Krankheitsverlauf haben kann. Dazu betont BSG (BeckRS 2021, 8709), dass es für die Auslegung des Leistungsrechts nicht ausreicht, dass der behandelnde Arzt eine Methode zur Anwendung bringt, die nach seiner subjektiven Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst, sondern darauf, ob es für die fachliche Einschätzung des behandelnden Arztes auch objektive Hinweise gibt.